Barrierefreies Web und LaTeX - Freund oder Feind?

Was ist das Web, wirklich?

Wir wissen es noch nicht. Zum Vergleich, 100 Jahre nach Gutenbergs Druckerpresse:

• Schlechtes Layout im Vergleich Kodizes
• Keine neuen inhaltlichen Formate (z.B. Roman)
• Illegale Kopien
• Einfache Pamphlete
• die Unruhen und Kriege auslösen

Inspiration: Dao of Web Design (2000), Responsive Web Design (2010), The Web’s Grain (2015), F-Shaped Pattern of Reading on the Web (2017)

Die Web Plattform

Separation of concerns (Trennung der Belange) des Web.

• HTML für Struktur/Semantik
• CSS für Präsentation/Layout
• SVG - Vektorgraphik
• Erweiterbarkeit und Interaktivität (z.B. JavaScript, Canvas, WebGL)

Grundsätzlich barrierefrei

Das Web ist grundsätzlich barrierefrei. Wenn Barrieren entstehen, haben wir sie selbst verschuldet.

Barrieren enstehen z.B. in den folgenden Bereichen:

👁 Visuell: Blindheit, niedrige oder eingeschränkte Sehleistung, eingeschränkte Sicht
👂 Auditiv: Taubheit, Schwerhörigkeit, Lärm
🖐 Motorik: keine Maus, langsame Reaktion, eingeschränkte Feinmotorik
🧠 Kognition: Dyslexie, Dyskalkulie, Ablenkung, Gedächtnisschwierigkeiten

Inspiration: HTML: A good basis for accessibility (MDN), Selfish Accessibility (Adrian Roselli), Accessibility is usability (Sarah Richards)

Universelles Design

Ein wichtiger Überbegriff ist das Universal Design.

“Universal design is design that’s usable by all people, to the greatest extent possible, without the need for adaptation or specialized design.”–Ron Mace

Nick-philly , CC BY-SA 4.0

Barrierfrei definieren

Rechtlich: European Accessibility Act / Barrierefreiheits­stärkungs­gesetz

Im Wesentlichen: Web Content Accessibility Guidelines (WCAG) 2.2 (EN 301 549 / BITV)

• ~80 Success Criteria (Erfolgskriterien) eingeteilt in A, AA, AAA
• A&AA rechtlich gefordert, AAA optional/ideal
• Betreffen größtenteils Interaktion, weniger “statische” Inhalte
• Begleitend: Understanding WCAG, WCAG Quick Reference
• Einstieg: W3C Accessibility Principles WebAIM WCAG Checklist

Mehr: EAA Umsetzung in Deutschland, WCAG 2.1 auf Deutsch, WebAIM Artikel (Englisch)

WCAGs POUR Prinzipien

WCAG Grundpfeiler: Alle Inhalte müssen

• Perceivable - Wahrnehmbar
• Operable - Bedienbar
• Understandable - Verständlich
• Robust

sein für alle Nutzer.

Barrierefreiheit entwickeln

Barrierefreiheit ist ein auf Menschen ausgerichteter Prozess.

• Jeder Schritt ist wertvoll - vor allem der erste.
• Barrierefrei ist kein Endpunkt.
• Reifegradmodelle können helfen, die Entwicklung zu bewerten und zu verbessern.

Mehr: Fortschritt in der digitalen Barrierefreiheit messen, W3C Accessibility Maturity Model, The Digital Accessibility Maturity Lifecycle

LaTeX

Und was hat das ganze mit LaTeX zu tun?

Reicht ein PDF?

Nein.

• PDF ist grundsätzlich nicht barrierefrei
• PDF-UA ist deutlich schlechter nutzbar als Webinhalte (webaim survey, 2021)
• PDF-UA ist schwer herstellbar, prüfbar, korrigierbar
  • insbesondere nicht für komplexe akademische Inhalte
• LaTeX Projekt zu PDF-UA kommt nur sehr langsam voran

Mehr: Wie barrierefrei sind PDFs?, LaTeX Project News

Printprobleme

Printtraditionen bergen versteckte Problem. Eine Auswahl:

• rein visuelles Medium
• fixe Dimensionen
• komplexes Textdesign (Schriften, Größen, Orientierung)
• semantischer White Space
• Formelsatz
• Bildelemente

TeXs Schwächen

• “siehe oben” - TeXs Herz ist Print
• Makroprogrammiersprache
  • Chomsky Typ 1
  • Kind seiner Zeit (z.B. Layout, Fonts, Optimierungen)
• Kulturelle Probleme (z.B. Lernverhalten, Pakete)

TeXs Stärken

• LaTeX
  • standardisiertes Makropaket
  • Trennung von Inhalt & Präsentation
• Programmiersprache
  • Stabilität
  • text basiert
• Kultur
  • Lingua Franca in MINT Fächern
  • Teils im Schulbereich
  • Traditionen wie Literate Programming

Aus LaTeX Quellen zum Web

Etliche Programme können LaTeX zu Webinhalten konvertieren.
Eine Auswahl:

• pandoc *
• tex4ht / make4ht *
• plastex
• latexml
• texml**

Eine Frage der Balance

Separation of concerns:

• Wie nah an TeX (d.h. Print) bleiben?
• Wie nah ans Web kommen?

Zu weit weg vom Web: Printlayout, Barrieren
Zu weit weg von TeX: Einschränkungen bei Macros, Paketen etc.

Werkzeuge helfen, retten uns aber nicht.

(Aber auch: Balance Benutzbarkeit vs Mächtigkeit.)

Beispiel: Algorithmen

Algorithm layout

Beispiel: Formelsatz

Formelsatz ist grundsätzlich problematisch.

an elaborate, two-dimensional form of abbreviated notation for compressed, highly complex, context dependent, abstract thought. [Krautzberger]

Gute LaTeX-Quellen sind das bisher beste Format für barrierefreie Darstellung von Formelsatz im Web. Gerade auch in Deutschland.

MathJax hilft.

Problemgebiete: Visuelle Kommunikation

• Graphiken
• Farben
• Sensorische Kommunikation

Mehr dazu morgen!

Stärken: Best Practices sind zentral

LaTeX hat gute Best Practices, z.B.

• Gliederung
• Listen, Abbildungen, Tabellen, Zitate, Quellcode
• Theorem-Umgebungen (Definitionen, Theoreme, Lemmata etc)
• Querverweise (Gliederung, Formeln, Theorem, Bibliographien, Fußnoten)
• erzeugte Graphiken (Diagramme etc.)
• Indizes, Glossare
• Metadaten

Caveat: Menschen lernen LaTeX meist nur einmal.

Stärken: Use the source!

TeX-Quellen sind lesbar & weiterverwendbar

• Text und Struktur
• erzeugte Graphiken (tikz, pstricks)
• externer Code (matplotlib, Sage, R, Julia)
• Formelsatz

Keep the Source!

Rückschau

• Barrierefreiheit ist ein Menschenrecht
  • ist ein Prozess
  • hat rechtliche&technische Grundlagen (WCAG)
• Das Web ist das erste grundsätzlich barrierefreie Medium
• LaTeX kann ein gutes Quellformat für das Web sein
  • Print & andere Traditionen erschweren es
  • Best Practices erleichtern es
  • Viele Werkzeuge, mit unterschiedlicher Balance

Nach der Pause…

• Kurze Einführung in pandoc und tex4ht
• Beispieldokumente Konvertieren
  • Konversionsprobleme lösen
• Offene Arbeit